Während der Lektüre "Die Erfindung der Eleganz" kam in mir diese Frage auf. Man würde nicht vermuten, bei solch einem Buchtitel in solche tiefen Abgründe der eigenen Individualität zu tauchen und an einem Punkt zu gelangen, der einer Sinnkrise gleicht. Alles began mit dem Kapitel: In den Wäldern: Jean-Jacques Rousseau sucht das wahre Selbst. Man erfährt ein wenig über seine Kindheit und wie diese ihn geprägt hat im Laufe des Lebens. Wie er zu den Menschen stand auf Basis dessen, was er erleben musste. Er war dem Zeitgeist entfremdet. So fühle auch ich. Die Welt, in der wir uns aktuell bewegen, hat überhaupt nichts mehr mit meinen Vorstellungen von einer Welt zu tun. Alles ist auf den Kopf gestellt worden. Ich sehne mich nach den Zeiten Rousseau's, in der alles Struktur hatte. Jeder war an seinem Platz und wusste um die Möglichkeiten, wie und ob er aufsteigen konnte. Heute zählt die Devise: Du kannst sein und werden, was du willst. Ich weiß, wie verlogen dieser Spruch ist, denn ich kann keine Königin sein und nicht die Pronomen: Eure königliche Hoheit oder eure Majestät wählen. Das ist schlicht Wahnsinn, wenn dies möglich wäre. Man wird zu einer Königin gemacht und nicht selbst erwählt... Rousseau schrieb einiges, dass ich noch lesen muss. Deshalb kann ich zu seinen Schriften nichts sagen; nur zu dem, was Knipp in dem Buch schilderte. Die Gedanken Rousseau's sind den meinen nicht fremd. Vermutlich Tausenden anderen ebenso wenig. Als es zum nächsten Kapitel: "Auf der Bühne: Diderot und der Wille zur Flexibilität" kam, glaubte ich fast, man schreibe über die aktuelle Lage der Welt. Eigentlich geht es um das Theater. Um Zuschauer, Darsteller und die Wirkung von Emotionen. Wie sehr hat mich das an Social Media erinnert! Es gibt die Bühne, welche heute YouTube, Tiktok oder Instagram genannt wird. Der Content Creator ist der Darsteller und der Konsument der Zuschauer. Aus privaten Menschen, die ihr Leben teilen, werden öffentliche Personen, die sich darstellen m. Manche legen es darauf an, öffentlich zu werden oder anders gesagt: Berühmt. Anderen passiert es, aus welchen Gründen auch immer, zufällig. Und hier kommt ein Essay Rousseau's ins Spiel: Lettre a M. d'Alembert sur les spectacles. Er beschreibt, wie die Menschen seiner Zeit nicht authentisch sein könnten, da die Bühne es nicht zulässt. Es fehlt die Authentizität und Aufrichtigkeit. Der Vergleich von Städten und Dörfern bzw. kleinen Städten kommt auf. In einer Großstadt ist alles eher anonym. Zumeist kennt man seinen Nachbarn nicht einmal. Mir geht es zumindest so. In einer kleinen Stadt hingegen oder gar ein Dorf ist dies anders. Man grüßt sich auf der Straße, redet über den Zaun hinweg mit dem Nachbarn und weiß irgendwie immer, was der andere gerade gemacht hat. Dazu fällt mir ein Beispiel ein. Nachdem meine Mutter verstarb, wusste es jeder dort, wo ich einst wohnte. Es war unheimlich. In der Stadt hingegen weiß es niemand. Es gab keinen, der mich darauf ansprach, mich drückte und sein Beileid aussprach. Online gesehen ist es so: Je mehr Reichweite man hat, desto mehr Beileidsbekundungen erhält man. Man ist also eine Stadt geworden. Jeder glaubt, dich zu kennen und urteile über dich fällen zu dürfen. Doch ist es nicht so, dass man einen Darsteller verurteilt und nicht die echte Person?
Authentizität verblasst im Angesicht großer Reichweite.
Du kannst nicht mehr so ehrlich sein wie noch zu beginn deines Accounts. Einigen wenigen über deine politischen Ansichten Auskunft geben ist etwas ganz anderes, wie Zehntausenden. Zu viele Menschen bedeuten zu viele unterschiedliche Meinungen. Und dann, wenn es vielen nicht passt, kommt die Cancel Culture hervorgekrochen. Von mehr Realität auf Instagram oder Authentizität kann hier keine Rede mehr sein. Das habe ich selber erlebt. Und es war unangenehm, nicht mehr offen sein zu können. Sich verstecken zu müssen, wenig bis keine Meinung zu Themen mehr abzugeben, obwohl die Leute einem einst genau deshalb folgten. Aus meinem Content wurde ein reiner Natur Content, weil ich mich nicht mehr traute, frei zu reden. Mein Ich hatte aufgehört zu existieren und wurde ersetzt durch eine Maske.
Während Rousseau seinen Zeitgeist beschreibt, finde ich, beschreibt er ebenso unseren aktuellen Zeitgeist. Nun kommt Diderot ins Spiel. Dieser sieht Rousseau's Ansichten ein wenig anders. Für ihn wirke es eher so, als sei das fehlen jeglicher Identität der Schlüssel des Schauspiels. Die Identität würde nur auf gängige Verhaltensweisen basieren. Durch die Nachahmung finden wir zu uns selbst. Dies ließ mich nachdenken. Jeglicher Content, den ich in den letzten Jahren produzierte, war ein Mischmasch aus Nachahmung. Wenn ich irgendwo sah, dass etwas funktionierte, ahmte ich es sofort nach. Doch habe ich damit zu mir selbst gefunden? Eher nicht. Es hat mich eher in eine Sinnkrise gebracht. Denn bei allen anderen funktionierte es ja, nur bei mir nicht. Wieso? Ein Strudel aus Vergleichen folgte. Sehen die anderen besser aus als ich? Sind sie klüger, reicher, selbstbewusster, erfolgreicher, reichweitenstärker... als ich? Wer bin ich? Was ist das Ich? Schäle ich jede einzelne Eigenschaft von mir ab, was ist dann der Kern? Wenn ich keine Frau mehr bin, kein Content Creator, keine Schokoladenliebhaberin, keine Deutsche, keine Wanderin, keine Naturliebhaberin... Was bleibt dann noch vom Ich? Bin ich nur ein Produkt dessen, was mir ästhetisch gefällt? Heute so, morgen so? Mein Ich vor zehn Jahren hat wenig mit dem Ich von heute zu tun. Mein Ich vom letzten Jahr hat wenig mit dem zu tun, wer ich jetzt bin. Also was ist das Ich und wie definiere ich es? Ist es wie Rousseau sagte: Mein Ich ist gut, aber die Gesellschaft macht mich schlecht? Gebe ich hier nicht Verantwortung ab? Es gibt Menschen, die nach viel böser Erfahrung dennoch gut bleiben. Kommt hier also das wahre Ich zum Vorschein, dass zeigt, ob es gut oder böse ist? Was ist dann aber gut und böse? Das meiste definieren wir gleich. Im Grunde sind es die zehn Gebote der Bibel. Du sollst nicht stehlen, nicht lügen, nicht morden usw.
Können wir das Ich finden, wenn wir uns für längere Zeit isolieren? Rousseau soll dies getan haben und hat wohl eine Antwort für sich gefunden. Doch wenn wir eine Antwort gefunden haben und zurück in die Gesellschaft gehen, verschwimmt dann unsere Antwort mit dem gesellschaftlichen Zeitgeist? Wir alle müssen uns anpassen. Heutzutage kann man nicht mehr herumlaufen wie Rousseau es damals tat. Auf Kostümfesten ja, da ist es angebracht, doch so im alltäglichen? Man würde ausgelacht. Ich selbst (was mein aktuelles Ich ästhetisch schön findet) würde in einer Haube, Rock und Bluse herumlaufen, wie es einst Caroline Ingalls tat. Ich weiß, dass die anderen Ich's ein Problem damit hätten. Doch soll das mein Problem sein? Mein Ich tut deinem Ich doch nicht weh, oder?
Ich schätze, das Ich ist, was wir aktuell als richtig empfinden. Als schön, angenehm und perfekt. Und da unsere Herzen so wankelmütig sind, kann das Ich schon morgen anders sein. Nur reicht das nicht aus. Irgendwo muss doch der Kern des Ich's verborgen sein! Gibt es vielleicht verschiedene Ich's? Manchmal bin Ich im Modus Marie Antoinette, das heißt: ich konsumiere alles, was mit ihr und dem königlichen zu tun hat. Musik, Essen, Laufen, Gedanken. Alles muss dem einer Prinzessin gleichen. Dann gibt es den Modus des Naturliebhabers. Der Konsum ist voll mit Büchern über Bäume, Blumen und Wolken. Mein Aufenthaltsort ist die Natur. Ein anderes Ich ist der einer, ich nenne sie mal Katherine Pierce. Wer sie aus Vampire Diaries kennt, weiß, wie der Modus aussieht. Man ist super selbstbewusst, zieht sich dunkel an, hat immer einen Plan B, C und so weiter.
Also: Wer bin ich? Ein Mix aus all dem? Oder habe ich mich nur nicht gefunden und versuche mich deshalb an verschiedenen Verhaltensmustern, bis ich Ich gefunden habe?